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Rund um den Glockenturm · Mai 2016

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Gestern & heute

Auf der Suche nach der Heimat

Die Zufriedenheit des Augenblicks

„Heimat ist für mich dort, wo man Wär-

me und Geborgenheit findet, wo man

sich auskennt und mit den Menschen

vertraut ist“ sagt Dorothea Reese aus

Haus Sonnenblume. Für die 91-Jährige

ist das Thema Heimat eine sensible und

besondere Geschichte.

Mit vier Jahren zog sie mit ihrer Mutter

von Bonn nach Pillkallen im ehemaligen

Ostpreußen. Weite Kornfelder, Wälder,

Weide- und Blumenwiesen mit Veilchen,

Maiglöckchen, Leberblümchen. „Ich ha-

be die Landschaft sehr geliebt“, sagt Do-

rothea Reese, „… aber meine Heimat war

es nie.“ Auf der Suche nach der Heimat

zog sie im Alter von 16 Jahren nach

Wien. „Ich hatte eine Lehrstelle bei der

Bank, ließ mich zum Kriegsdienst ver-

pflichten und landete inWien. Eine wun-

derschöne Stadt!“, schwärmt sie. „Die

prachtvollen Boulevards, die Schlösser,

Burgen und Jugendstilbauten, die Thea-

ter und Museen. Und dazu die höflichen

Menschen!“ Aber es waren Kriegszeiten

und zur Heimat wurde auch die Haupt-

stadt Österreichs nicht für Dorothea

Reese. Mit 21 Jahren zog sie nach Celle,

bemühte sich um einen Job in einer Gärt-

nerei, um die begehrten Lebensmittel-

karten zu erhalten. Schnell wurde sie be-

fördert und leitete schon kurze Zeit

später ein Blumengeschäft in der Stadt.

30 Jahre lang! Aber selbst über die Jahr-

zehnte wuchs zur Stadt Celle kein Hei-

matgefühl.

Aus gesundheitlichen Gründen musste

Dorothea Reese schon mit 57 Jahren in

den frühen Ruhestand gehen. Die Zeit

der Reisen beginnt – durch ganz Europa.

„Auf einer Busreise durch Italien lernte

ich Hamburger kennen. Wunderbare

Menschen, mit denen mich schnell eine

innige Freundschaft verband. Angehöri-

ge hatte ich nicht mehr, also gab ich mei-

neWohnung in Celle auf, zog nach Ham-

burg und teilte 27 Jahre lang eine

Wohnung mit diesen Freunden. Hier

fand ich alles, was ich bislang vermisst

hatte: Wärme, Geborgenheit, Ver-

trautheit. Dazu diese wun-

derschöne Stadt mit all ih-

ren Bauten, dem Hafen,

der Elbe und Alster. Ich

mag die Menschen hier,

ihre Toleranz und ihre

Weltoffenheit.“

Nun ist die ehemalige Blu-

menhändlerin seit fünf Jah-

ren im Haus Sonnenblume.

Das Zimmer ist geschmückt

von selbstgemalten Aqua-

rellen. Bilder mit bunten

Blumen, griechischen In-

seln, italienischen Dörfern

erzählen von ihrem Leben.

„Nach den Jahren in der

Gemeinschaft bin ich al-

lein in die ‚Kleine Stadt für

Senioren‘ gekommen“, er-

zählt Dorothea Reese.

„Heimat ist dort, wo man in diesem Au-

genblick zufrieden ist. Und das bin ich

nun hier im Haus Sonnenblume!“

n

Adrienne Friedlaender